Montag, 14. August 2017
Mittwoch, 21. Juni 2017
vom sammeln des flügelschlags
vom sammeln des flügelschlags
Nicht mit üblichem Capital-Letter eines Substantives, sondern als kleiner "flügelschlag" steht er da geschrieben: der Name, den die Künstlerin Vera Kattler ihren querformatigen, 14,8 x 21 cm messenden Papier-Arbeiten gegeben hat. Sind die Werke im klassischen DIN A5-Format zwar klein, so kommen sie aber in 1000-facher Variation vor. Rhythmisch wiederkehrend, pulsierend, in hoher Schlagfrequenz.
Seit Monaten sammelt die Künstlerin ihre geflügelten Wesen in dunkler Tusche auf reinweißem Papier. Meist streng, mittig angeordnet sehen wir die Idee von Fliege, Biene, Motte, Schmetterling, Käfer, Libelle, Ameise, Wanze, Heuschrecke. Vielleicht sogar die Anspielung eines Kolibris oder einer kleinen Fledermaus?
Vera Kattler betont, dass es ihr nicht um die biologisch-wissenschaftliche Darstellung von Insekten geht, obwohl der erste Eindruck tatsächlich ist: Eine Insektensammlerin bannt hier die Tiere auf den Seziertisch. Wie einst schon die Künstlerin und Naturforscherin Maria Sibylla Merian in ihrem Hauptwerk "Metamorphosis insectorum Surinamensium" (Verwandlung der surinamischen Insekten).
Eine genaue Beobachtung der Natur und das Studium diverser naturwissenschaftlicher Bildbände ist für Vera Kattler selbstverständlich, aber um reine Naturstudien handelt es sich bei dieser großen Serie nicht.
Am Anfang ist das Wasser, mit dem die Künstlerin die vorgesehenen Flügelformen auf dem weißen Papier vorbildet. Meist ist dieses Wasser nicht glasklar, sondern verunreinigt durch den gefärbten Pinsel der vorangegangenen Arbeit. Steht eine Tasse Tee, Espresso oder ein Glas Rotwein im Atelier, dann sind auch deren Farben für die Basisform gefragt. Selbst salziges Meerwasser, das sie von der Nord- oder Ostsee mitgebracht hat, darf auf dem Papier fließen.
Mit einer Feder oder einem Pinsel berührt Vera Kattler nun den feuchten Grund mit schwarzer, oder farbiger Tusche. Die aufgetragene, wasserlösliche Farbe bekommt freien Fluss bei der Entfaltung und strömt bis ans Ende ihrer Möglichkeit am Rand der gewässerten Fläche. Beim Trocknungsprozeß verändern sich die Linien, Punkte, Flecken und Dunkelheiten erneut, so dass das Endergebnis völlig unkalkulierbar bleibt.
Mit schwarzer Ausziehtusche und einer Feder erhalten diese Wesen gegebenenfalls ihre Fühler oder Beinchen. Manche erinnern an Äste oder sogar Blüten - wie in der Wirklichkeit, in der sich einige Insekten selbst zur Tarnung als Teil einer Pflanze ausgeben.
Manche haben zwei, vier oder sechs Beine und zwei oder mehr Fühler. Wir erkennen bei anderen den Hinterleib, Bauch und Kopf. Bei einigen Wesen sind diese zu einer undefinierbaren Masse verschmolzen.
Das Verbindende sind die Flügel, die jede Kreatur erhalten hat, und die bei genauerem Hinsehen eine große malerische Welt offenbaren.
Die Transparenz, die jede Schwinge durch die wässrige Tusche besitzt, eröffnet eine ungeheure poetische Lebendigkeit. Quasi ein Bild im Bild. In einer rasanten Kamerafahrt beamt uns Vera Kattler aus der Realität in einen völlig fremden Mikrokosmos, in eine Gegenwelt des inneres Betrachtens.
Vera Kattler schreibt selbst Lyrik und beschäftigt sich seit vielen Jahren mit der traditionellen japanischen Gedichtform des Haikus, das als die kürzeste Gedichtform der Welt definiert wird. Die strenge Formel des Haikus wendet sie auch auf ihre Malerei an. Die Werkregeln sind klar defniert in Formatgröße und Technik. Es gibt ein dunkles, komprimiertes Inneres und ein nacktes, wasserwelliges, papierweißes Äußeres. Nur durch minimale Differenzen in der sanften Farbigkeit und der Körperform lässt Vera Kattler Variationen zu, die sie im Gleichtakt durchspielt um zum Kern ihrer künstlerischen Ermittlung vorzudringen.
Die Künstlerin stellt uns ihre Arbeiten als Malerei eines Einzelwesens dar und in Gruppierungen von sechs, neun oder mehr Flüglern. In Serien, die an einem einzigen Tag entstanden sind, werden Variationen des Gleichen durchprobiert um Verwandtschaftsverhältnisse zu analysieren. Dabei geht sie folgenden Fragen nach: Welche Aussage und Kraft besitzt ein einzelnes Bild? Was passiert durch die Gruppierung und welche Beziehungen entstehen zwischen den einzelnen Formen? Wie weit kann reduziert werden?
Neben der rein gestalterischen, ästhetischen Fragestellung, erforscht Vera Kattler auch inhaltliche Aspekte.
Macht die Masse das unteilbare Individuum größer oder kleiner? Sind Machtstrukturen erkennbar? Aus der Biologie weiß man, dass Individuen staatenbildender Insekten mit eingeschränkter Unabhängigkeit handeln. Sie sind jedoch sehr zielgerichtet bei der Erfüllung ihrer Aufgaben. Durch ihre hochentwickelte Selbstorganisation ist die Gesamtheit der Insektengesellschaften sehr leistungsfähig. Das Ganze entspricht also mehr als die Summe aller Einzelteile.
Die Wesen der "flügelschlag"-Serie sind alle zart, aber als überlebensgroß gemalte Insekten wiederum ziemlich mächtig. Auch hier ermittelt die Künstlerin in eine spannende Richtung. Nämlich danach, was eigentlich groß und bedrohlich auf der einen Seite und zierlich auf der anderen Seite empfunden wird. Ein Blatt im DIN A5-Format ist beinahe eine Miniaturmalerei, aber in einer 1000fachen Serie kann man damit eine Wandfläche von über 31 qm bestücken. Ein geflügeltes Tierchen mag noch keinen erschrecken, aber als gigantischer Schwarm erzeugt er doch ein gewisses Unwohlsein. Obwohl alle Tierchen streng zentriert angelegt wurden, und dadurch eigentlich Stille und Ordnung vorherrschen müsste, sind leichte Bewegungen in der Masse spürbar. Diese fast unmerklichen Verschiebungen verstärken den Eindruck des Unheimlichen und Unbehaglichen.
Deswegen ist auch die ersten Frage, die sich beim Betrachten der Arbeiten stellen mag: Sind diese Wesen, die hier gemalt vor uns liegen eigentlich tot oder lebendig? Woran erkennen wir das? Auch hier lotst uns die Künstlerin einen schmalen Grat entlang der Existenzfrage, nämlich nach dem Sein und Nicht-mehr-Sein.
Vera Kattler spielt darauf an, worum es ihr hier und verbindend in allen ihren Werken geht, nämlich um die Darstellung des Tierhaften, des Fremden, Unbekannten. Und sie stellt philosophische Fragen nach der eigenen und fremden Existenz. Es geht ihr um die "Präsenz des Anderen, um das spürbare Dasein des Einzelwesens, dessen Identität nicht klar zu bestimmen ist" (Kattler). Und es geht ihr auch immer um das Ausloten und Bestimmen von Differenz bzw. Eigenheit und Fremdheit, um Scheu vor dem Anderen bei gleichzeitiger unbedingter Neugierde.
Die Ermittlungen, die die Künstlerin in ihrer Arbeit durchführt, sind also nicht nur biologischer, sondern vor allem psychologischer, philosophischer und soziologischer Natur.
In ihrem großen Gesamtwerk, in dem es immer um das Tierhafte, das Fremde im Anderen und vor allem um das Fremde im eigenen Bewusstsein geht, spielt das Serielle eine große Rolle. So wird bei ihr aus einer einzelnen, blauschwarzen Krähe in der Gesamtschau ein dunkler Schwarm, aus einer winzigen Maus eine völlig irre, "mausmanische" Mäusekolonie. "Unklare Verwandtschaften" mit menschenähnlichen Figuren tummeln sich in großen Ansammlungen. Aus dem einzelnen Insekt könnte eine unheimliche, schreckliche Plage werden. Diese Wesen blicken uns aber so unmittelbar an, dass man nur betroffen, berührt oder auch belustigt sein kann. Das Verbindende an all ihren Arbeiten ist nämlich ein subtiler, raben-schwarzer Humor. Das Einzelwesen wirkt oft unscheinbar, verloren und fragil. In der außerordentlichen Menge ist es aber unheimlich und komisch zugleich. Mit dieser feinen Zweiwertigkeit lässt uns Vera Kattler lächelnd alleine, zurückgeworfen auf uns und unsere eigene Fremdartigkeit in einer skurrilen Welt voller Wunder und Geheimnisse. Ihr schräger Witz und der damit verbundene bizarre Hintersinn öffnet aber dem Betrachter viele Türen, durch die frische Luft zum entspannten Aufatmen strömen kann.
Veronika Olma
im Februar 2017
Donnerstag, 23. März 2017
Mittwoch, 15. Februar 2017
Donnerstag, 9. Februar 2017
Text zur Krähenformung 2015 im Künstlerbuch
„Krähenformung“
Der von der Künstlerin gewählte Titel dieser Werkserie
vereint in einem Wort das Thematische des Naturbezugs, zu deuten als die
Darstellung einer bestimmten Tierart, mit dem abstrakten Begriff Formung.
Formung bringt einen Prozess zur Sprache, gibt zu erkennen: Form wird erst,
präexistiert nicht. Das künstlerische Arbeiten Vera Kattlers kommt damit
präzise zur Sprache. Ihre Ölmalerei ist streng und seriell, basiert aber
gleichzeitig auf einer intuitiven Herangehensweise. Der Werkprozess bleibt
sichtbar erhalten samt Flecken und Kratzern, was noch vom Bildträger unterstützt
wird: Das glatte weiße Papier jeweils identischen Formats (30x40 cm) bewahrt
jede Spur der Werkentstehung.
Diese Malerei führt hin zu Resultaten von höchster
Realitätsempfindung und damit auch zu einem intensiven Naturerleben. Sie führt
dunkle Krähen vor blendend hellem Grund geradezu porträthaft vor Augen. Diese
beäugen den Betrachter unvermittelt, sind äußerst präsent, auch dank der
Nahsichtigkeit, die von den kleinen Bilddimensionen erzwungen wird. Die
Gegenwart der Wesen, die Vera Kattlers Malerei erschafft, bereitet, wie hier,
nicht unbedingt Behagen, aufgrund der Direktheit der Konfrontation mit einer
wehrhaften Kreatur. In früheren Werkreihen wurde ähnliches Unbehagen ausgelöst
durch Nager, Primaten oder die sich Gattungsbegriffen entziehenden Geschöpfe
des „Wurzelgekriechs“. Die ungemütliche Nähe irritiert, obwohl sich die
Kreaturen doch jederzeit als Erzeugnisse eines Malakts zu erkennen geben und
jeder Pinselstrich offen zu Tage tritt. Es entstehen mithin Bilder, die den Betrachter anschauen,
die zurückschauen, nicht allein die darin veranschaulichten Wesen. Der Blick
forscht ins Bild hinein und das Bild reagiert, es hebt die schützende Distanz
auf, entlarvt die Überlegenheit des Kenners genau wie die Anonymität, die eine
teilnahmslose Betrachtung gewährt. Noch dazu formieren sich die zahlreichen
Bilder einer Serie in den Ausstellungen zu raumgreifender Präsenz, bemächtigen
sich der gesamten Umgebung, führen überall ihr Unwesen. Im Fall der
Krähenformung schweben sie auch als Schattenrisse im Raum, als bewegte, mal
hell, mal dunkel erscheinende Schemen, als entkörperlichter Schwarm, Ausdruck
einer enormen Übermacht, bedrohlich und harmlos zugleich. Das Hell und Dunkel
der Bilder greift so auf den Ausstellungsraum über, die Krähenformung
mobilisiert und rhythmisiert ihn. Hinzu kommen Druckgraphiken: Ähnlich den
Scherenschnitten überlagern sich einzelne Linolschnitte von jeweils homogener
Farbe und formen dabei immer neue Arabesken aus Krähenprotomen. Seriell
entwickelt, erscheint so doch stets Unerwartetes, manchmal zart, manchmal
dämonisch. Das serielle Formen prägt ebenso Deformation aus: Die Krähen
erscheinen und entziehen sich wieder, verschwinden, hinterlassen im Bild aber
Reste, Körperteile, Aas, Kot oder nur Bewegungsspuren, Erinnerungsfetzen. Vera
Kattlers Bilder erscheinen als das Motiv variierende Mutationen und als
Schöpfungen eines konsequent seriell verstandenen Malaktes. Die Schöpfung
erscheint vital und muss daher vergänglich sein.
Trotz des
Umfangs bietet die Serie keinesfalls eine Enzyklopädie der Krähe; manches für
die Tiere Charakteristische wird jedoch betont. Als Kulturfolger, die überall
um uns herum anzutreffen sind, nähern sie sich uns in den Werken wie im Leben
auf vielfältigste Weise: stark, selbstbewusst, erhaben, mutig, klug oder
verletzlich, unbeholfen, manchmal in Auflösung begriffen. Solche Begriffe
könnten allerdings genauso menschliche Verhaltensweisen beschreiben. Mit dem
Blick auf die Krähen tritt nicht nur das Tierhafte hervor, das Betrachten gerät
vielmehr zum Blick in einen Spiegel, aus dem das Eigene als das Fremde,
Unbestimmte, Abgründige zurückschaut. Die Kompositionen sind also nicht als
Tierlebensdarstellungen, sondern als Formung von abgründigen
Fremdheitserfahrungen so vielgestaltig.
Lassen sich
die Krähen vielleicht symbolisch interpretieren? Gängigen Deutungen
entsprechend näherten sie sich dann als Botschafter alles Vergänglichen, als
Begleiter des Todes oder als Akteure in einem Totentanz. Dafür fehlt es den
Bildern wohl an ausdrücklicher Jenseitigkeit; die Künstlerin arbeitet das
Vitale der Kreatur heraus, zwar bis hin zu seiner Auflösung, doch ohne
Perspektive auf ein Dahinter. Eher ist das Unterbewusste in tierhafte Gestalt
gefasst als das Dunkle und Fremde, das sich uns zuwendet, ohne ganz erkannt
werden zu können.
Existentiell ist demnach das Erscheinen der Krähen im Bild,
denn sie haben keinen Ort außer sich, nichts als die helle Fläche ihrer
Bildwerdung mit deren Spuren, keinen Raum, keinen Horizont und Himmel, keine
Erde und Atmosphäre. Obwohl Vögel scheinen sie nicht zu fliegen, bestenfalls
flattern sie, schlagen um sich, kämpfen, doch eher mit der eigenen Existenz,
ohne sichtbaren Gegner. Sie ziehen auch nicht von hier nach da, es gibt kein
Entkommen aus der Präsenz. Die Wesen sind einfach da, sie verströmen
Lebensenergie, pulsierend und atmend, sind durch die Pinselführung von
flackernder Vitalität geprägt. Gelegentlich glänzt das schwärzlich-blaue
Gefieder kostbar auf, bezieht den lichten Grund in sich ein und verliert dann
an Schwere.
Eine etwas
vom Boden pickende Krähe beherrscht als kompakter, aber mit einer öligen Aura
konturierter Rhombus – das Bindemittel erzeugt machmal sogar auf der
Bildrückseite noch geisterhafthafte Erscheinungen – die Richtungen des
Bildfelds. Ihre dünnen, breit ausgestellten Beine werden von scharrenden
Krallen unterfangen, die der Festigkeit und Schwere des Leibes nervöse
Bewegung, unaufhörliche Anspannung gegenüberstellen. Halbfigurig doppelköpfig
eine andere Krähe, die die Richtungen ausdrucksbetont differenziert, strubbelig
links, auftrumpfend spitz nach oben gerichtet, dagegen ablaufend gleitend die
rechte Seite, widerstandslos, zugehörig ein kleineres Auge, das ängstlicher als
das rechte dreinschaut. Zwei Seelen in einer Brust?
Die Krähen
formen sich ruhig oder bewegt, stets in Relation zur Bildfläche und zu komplex
aufzufassenden Lebenssituationen. Gegensätzliche, einander aufhebende Kräfte
innerhalb eines Wesens werden so sichtbar. Deren Anspannung wird an die gesamte
Bildfläche weitergegeben, ohne aber dort Unruhe zu erzeugen, wofür auch die
selbstbewusste Gelassenheit des Blickes einsteht; Ausgewogenheit entsteht,
vielleicht eine stoische Haltung bekundend, die jedem Untergang trotzt. Und Untergang
droht überall: Je mehr die Krähen den stabilisierenden Kontakt zum Bildrand
verlieren, je freier sie sind, desto stärker mutieren sie, was die Künstlerin bis zum Verschwinden des Motivs verfolgt.
Bernhard
Wehlen