vom sammeln des flügelschlags
Nicht mit üblichem Capital-Letter eines Substantives, sondern als kleiner "flügelschlag" steht er da geschrieben: der Name, den die Künstlerin Vera Kattler ihren querformatigen, 14,8 x 21 cm messenden Papier-Arbeiten gegeben hat. Sind die Werke im klassischen DIN A5-Format zwar klein, so kommen sie aber in 1000-facher Variation vor. Rhythmisch wiederkehrend, pulsierend, in hoher Schlagfrequenz.
Seit Monaten sammelt die Künstlerin ihre geflügelten Wesen in dunkler Tusche auf reinweißem Papier. Meist streng, mittig angeordnet sehen wir die Idee von Fliege, Biene, Motte, Schmetterling, Käfer, Libelle, Ameise, Wanze, Heuschrecke. Vielleicht sogar die Anspielung eines Kolibris oder einer kleinen Fledermaus?
Vera Kattler betont, dass es ihr nicht um die biologisch-wissenschaftliche Darstellung von Insekten geht, obwohl der erste Eindruck tatsächlich ist: Eine Insektensammlerin bannt hier die Tiere auf den Seziertisch. Wie einst schon die Künstlerin und Naturforscherin Maria Sibylla Merian in ihrem Hauptwerk "Metamorphosis insectorum Surinamensium" (Verwandlung der surinamischen Insekten).
Eine genaue Beobachtung der Natur und das Studium diverser naturwissenschaftlicher Bildbände ist für Vera Kattler selbstverständlich, aber um reine Naturstudien handelt es sich bei dieser großen Serie nicht.
Am Anfang ist das Wasser, mit dem die Künstlerin die vorgesehenen Flügelformen auf dem weißen Papier vorbildet. Meist ist dieses Wasser nicht glasklar, sondern verunreinigt durch den gefärbten Pinsel der vorangegangenen Arbeit. Steht eine Tasse Tee, Espresso oder ein Glas Rotwein im Atelier, dann sind auch deren Farben für die Basisform gefragt. Selbst salziges Meerwasser, das sie von der Nord- oder Ostsee mitgebracht hat, darf auf dem Papier fließen.
Mit einer Feder oder einem Pinsel berührt Vera Kattler nun den feuchten Grund mit schwarzer, oder farbiger Tusche. Die aufgetragene, wasserlösliche Farbe bekommt freien Fluss bei der Entfaltung und strömt bis ans Ende ihrer Möglichkeit am Rand der gewässerten Fläche. Beim Trocknungsprozeß verändern sich die Linien, Punkte, Flecken und Dunkelheiten erneut, so dass das Endergebnis völlig unkalkulierbar bleibt.
Mit schwarzer Ausziehtusche und einer Feder erhalten diese Wesen gegebenenfalls ihre Fühler oder Beinchen. Manche erinnern an Äste oder sogar Blüten - wie in der Wirklichkeit, in der sich einige Insekten selbst zur Tarnung als Teil einer Pflanze ausgeben.
Manche haben zwei, vier oder sechs Beine und zwei oder mehr Fühler. Wir erkennen bei anderen den Hinterleib, Bauch und Kopf. Bei einigen Wesen sind diese zu einer undefinierbaren Masse verschmolzen.
Das Verbindende sind die Flügel, die jede Kreatur erhalten hat, und die bei genauerem Hinsehen eine große malerische Welt offenbaren.
Die Transparenz, die jede Schwinge durch die wässrige Tusche besitzt, eröffnet eine ungeheure poetische Lebendigkeit. Quasi ein Bild im Bild. In einer rasanten Kamerafahrt beamt uns Vera Kattler aus der Realität in einen völlig fremden Mikrokosmos, in eine Gegenwelt des inneres Betrachtens.
Vera Kattler schreibt selbst Lyrik und beschäftigt sich seit vielen Jahren mit der traditionellen japanischen Gedichtform des Haikus, das als die kürzeste Gedichtform der Welt definiert wird. Die strenge Formel des Haikus wendet sie auch auf ihre Malerei an. Die Werkregeln sind klar defniert in Formatgröße und Technik. Es gibt ein dunkles, komprimiertes Inneres und ein nacktes, wasserwelliges, papierweißes Äußeres. Nur durch minimale Differenzen in der sanften Farbigkeit und der Körperform lässt Vera Kattler Variationen zu, die sie im Gleichtakt durchspielt um zum Kern ihrer künstlerischen Ermittlung vorzudringen.
Die Künstlerin stellt uns ihre Arbeiten als Malerei eines Einzelwesens dar und in Gruppierungen von sechs, neun oder mehr Flüglern. In Serien, die an einem einzigen Tag entstanden sind, werden Variationen des Gleichen durchprobiert um Verwandtschaftsverhältnisse zu analysieren. Dabei geht sie folgenden Fragen nach: Welche Aussage und Kraft besitzt ein einzelnes Bild? Was passiert durch die Gruppierung und welche Beziehungen entstehen zwischen den einzelnen Formen? Wie weit kann reduziert werden?
Neben der rein gestalterischen, ästhetischen Fragestellung, erforscht Vera Kattler auch inhaltliche Aspekte.
Macht die Masse das unteilbare Individuum größer oder kleiner? Sind Machtstrukturen erkennbar? Aus der Biologie weiß man, dass Individuen staatenbildender Insekten mit eingeschränkter Unabhängigkeit handeln. Sie sind jedoch sehr zielgerichtet bei der Erfüllung ihrer Aufgaben. Durch ihre hochentwickelte Selbstorganisation ist die Gesamtheit der Insektengesellschaften sehr leistungsfähig. Das Ganze entspricht also mehr als die Summe aller Einzelteile.
Die Wesen der "flügelschlag"-Serie sind alle zart, aber als überlebensgroß gemalte Insekten wiederum ziemlich mächtig. Auch hier ermittelt die Künstlerin in eine spannende Richtung. Nämlich danach, was eigentlich groß und bedrohlich auf der einen Seite und zierlich auf der anderen Seite empfunden wird. Ein Blatt im DIN A5-Format ist beinahe eine Miniaturmalerei, aber in einer 1000fachen Serie kann man damit eine Wandfläche von über 31 qm bestücken. Ein geflügeltes Tierchen mag noch keinen erschrecken, aber als gigantischer Schwarm erzeugt er doch ein gewisses Unwohlsein. Obwohl alle Tierchen streng zentriert angelegt wurden, und dadurch eigentlich Stille und Ordnung vorherrschen müsste, sind leichte Bewegungen in der Masse spürbar. Diese fast unmerklichen Verschiebungen verstärken den Eindruck des Unheimlichen und Unbehaglichen.
Deswegen ist auch die ersten Frage, die sich beim Betrachten der Arbeiten stellen mag: Sind diese Wesen, die hier gemalt vor uns liegen eigentlich tot oder lebendig? Woran erkennen wir das? Auch hier lotst uns die Künstlerin einen schmalen Grat entlang der Existenzfrage, nämlich nach dem Sein und Nicht-mehr-Sein.
Vera Kattler spielt darauf an, worum es ihr hier und verbindend in allen ihren Werken geht, nämlich um die Darstellung des Tierhaften, des Fremden, Unbekannten. Und sie stellt philosophische Fragen nach der eigenen und fremden Existenz. Es geht ihr um die "Präsenz des Anderen, um das spürbare Dasein des Einzelwesens, dessen Identität nicht klar zu bestimmen ist" (Kattler). Und es geht ihr auch immer um das Ausloten und Bestimmen von Differenz bzw. Eigenheit und Fremdheit, um Scheu vor dem Anderen bei gleichzeitiger unbedingter Neugierde.
Die Ermittlungen, die die Künstlerin in ihrer Arbeit durchführt, sind also nicht nur biologischer, sondern vor allem psychologischer, philosophischer und soziologischer Natur.
In ihrem großen Gesamtwerk, in dem es immer um das Tierhafte, das Fremde im Anderen und vor allem um das Fremde im eigenen Bewusstsein geht, spielt das Serielle eine große Rolle. So wird bei ihr aus einer einzelnen, blauschwarzen Krähe in der Gesamtschau ein dunkler Schwarm, aus einer winzigen Maus eine völlig irre, "mausmanische" Mäusekolonie. "Unklare Verwandtschaften" mit menschenähnlichen Figuren tummeln sich in großen Ansammlungen. Aus dem einzelnen Insekt könnte eine unheimliche, schreckliche Plage werden. Diese Wesen blicken uns aber so unmittelbar an, dass man nur betroffen, berührt oder auch belustigt sein kann. Das Verbindende an all ihren Arbeiten ist nämlich ein subtiler, raben-schwarzer Humor. Das Einzelwesen wirkt oft unscheinbar, verloren und fragil. In der außerordentlichen Menge ist es aber unheimlich und komisch zugleich. Mit dieser feinen Zweiwertigkeit lässt uns Vera Kattler lächelnd alleine, zurückgeworfen auf uns und unsere eigene Fremdartigkeit in einer skurrilen Welt voller Wunder und Geheimnisse. Ihr schräger Witz und der damit verbundene bizarre Hintersinn öffnet aber dem Betrachter viele Türen, durch die frische Luft zum entspannten Aufatmen strömen kann.
Veronika Olma
im Februar 2017
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